Die serbische Zivilgesellschaft hat eine Auswertung von mehr als 3.000 Aussagen von Zeug:innen des Schallwaffen-Vorfalls in Belgrad vorgelegt. Der genaue Hergang des Vorfalls bei einer friedlichen Großdemonstration der Demokratiebewegung am 15. März ist weiterhin unklar. Die serbische Zivilgesellschaft hat auf einer Pressekonferenz heute Aufklärung gefordert, der Fall wird vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte untersucht, die Regierung bestreitet den Einsatz von Schallwaffen oder einer Vortex-Kanone vehement. Präsident Vučić hat gar sein politisches Schicksal mit der Frage verbunden. Der Einsatz von Schallwaffen ist in Serbien illegal.
Klar ist bislang nur: Gegen 19:11 Uhr am 15. März liefen Menschen auf ungewöhnliche Art und Weise auf einer Länge mehrerer Hundert Meter und entlang einer geraden Linie panisch auseinander. Zahlreiche Hinweise von unterschiedlichen Recherchen deuten inzwischen auf eine Koordination verschiedener Störaktionen und Provokationen zu diesem Zeitpunkt hin, bei denen beispielsweise auch Feuerwerkskörper und andere Gegenstände in die Demonstration geworfen wurden.
Teil dieser koordinierten Aktion dürfte aber auch der Einsatz einer Schallwaffe oder einer Vortex-Kanone gewesen sein, denn die Reaktion der Menschenmenge ist nach allen bisherigen Recherchen mit den anderen Störaktionen alleine nicht zu erklären. Der britische Sozialpsychologie-Professor Clifford Stott ist Experte für Massenpsychologie und Polizeieinsätze. Er geht gegenüber dem serbischen Factchecking-Medium „Istinomer“ davon aus, dass die Bewegung der Menschen „stark auf einen von außen kommenden Reiz und nicht auf interne psychologische Prozesse“ hindeute.
Neben zivilgesellschaftlichen Gruppen und Initiativen aus Serbien und einer internationalen Recherchegruppe arbeiten auch serbische Medien wie das Nachrichtenmagazin „Vreme“ an einer Rekonstruktion der Ereignisse (€). Die internationale Recherchegruppe, zu der auch netzpolitik.org gehört, hat einen vorläufigen Zwischenbericht (PDF) mit möglichen Erklärungen veröffentlicht.
Visualisierung von Zeugenaussagen
Auf einer eigens eingerichteten Webseite stellt nun ein Bündnis serbischer Organisationen eine vorläufige Auswertung von mehr als 3.000 Aussagen von Zeug:innen vor. Die Organisationen hatten direkt nach dem Vorfall angefangen zu sammeln und einen sehr starken Rücklauf aus der Bevölkerung erhalten.
Die jetzt veröffentlichte anonymisierte Datenauswertung und -visualisierung könnte weitere Hinweise dazu geben, von wo aus mit welcher Art von Waffe auf die Demonstration geschossen wurde. Die Zeugenaussagen sind räumlich unterteilt, so dass man diese für die einzelnen Straßenabschnitte einzeln abfragen kann. Auf der Auswertungswebseite können alle einzelnen thematisch gerasterten Zeugenaussagen abgefragt werden, wenn man mit mit der Maus über die Datenpunkte fährt. Die Seite ist bislang nur auf serbisch erschienen, lässt sich aber mit gängigen Tools im Browser automatisch übersetzen.

Viele berichten von Windstoß
Durch die Auswertung wird zum Beispiel klarer, von wo aus die Menschen das Geräusch wahrnahmen, ein wichtiger Hinweis auf den Ausgangsort der eingesetzten Technologie. Während ganz im Norden der Straße die Menschen die Richtung der Welle / des Geräuschs als aus Süden kommend wahrnahmen, nahm die überwiegende Mehrheit der Zeug:innen weiter südlich den Effekt aus Norden kommend wahr. Diese Beobachtung deckt sich auch mit einer Auswertung der kartografierten Videos der internationalen Recherchegruppe.
Neben den schon bekannten Wahrnehmungen eines vorbeifahrenden Lastwagens oder durchfliegenden Flugzeuges oder einer Rakete, berichten erstaunlich viele Menschen von einem Windstoß, der mit der Welle / dem Geräusch einherging. Auch dies könnte auf den Einsatz einer über die Köpfe schießenden Vortex-Kanone hinweisen. Eine solche Kanone ist Bestandteil der Theorien, weil mehrere Recherchegruppen unabhängig voneinander auf Videos das Geräusch einer solchen Kanone identifizieren konnten. Nur wenige Zeugenaussagen sagen, dass sie auf die Reaktion anderer Menschen reagierten, was wiederum ein Hinweis darauf ist, dass es sich nicht um eine klassische Massenpanik handelte.
Bei der psychischen Wirkung des Vorfalls überwiegen in den Zeugenaussagen Furcht, Panik und Desorientiertheit.
Europäischer Gerichtshof eingeschaltet
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg untersucht den Vorfall. 47 Einzelpersonen haben mit Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Organisationen einen Antrag auf eine „Einstweilige Anordnung“ (Interim Measures) gestellt – eine Art Eilverfahren, bei dem kein endgültiges Urteil gefällt wird. Das Gericht hatte nach der Einreichung sowohl den klagenden zivilgesellschaftlichen Organisationen und Einzelpersonen wie auch der serbischen Regierung auferlegt, ihre Sicht der Ereignisse bis zum 8. April abzugeben. Dieser Prozess ist nun abgeschlossen. Wann das Gericht entscheiden wird, konnte ein Pressesprecher gegenüber netzpolitik.org noch nicht sagen.
Auch die Visualisierung der Zeugenaussagen gibt noch keinen Aufschluss darüber, was genau passiert ist. Denn niemand konnte bezeugen, von wo aus die mutmaßliche Technologie eingesetzt wurde. Unklar ist auch weiterhin was für eine Art von Waffe und durch wen diese auf die Demonstration abgefeuert wurde. Die serbische Bewegung Kreni-Promeni hat laut Medienberichten bei den Vereinten Nationen eine Petition mit 600.000 Unterzeichnenden abgegeben, in der sie eine unabhängige Untersuchung des Vorfalls fordert. Zusätzlich übergaben sie dem Vertreter der Vereinten Nationen knapp 2.000 Zeugenaussagen und 30 Videos zum Vorfall sowie 50 Drohnenvideos, die das Gebiet rund um die betroffene Straße vorher, während und nach dem Vorfall zeigen. Das Material soll der Aufklärung dienen.
Protestbewegung geht weiter
Es gibt unterschiedliche Szenarien und Theorien, die von so genannten LRAD-Systemen, über eine Vortex-Kanone bis hin zu einer Technologie reicht, welche letztere simulieren kann. Auch eine Kombination von Technologien ist angesichts der Video- und Audioauswertung möglich. Die serbische Regierung hat mittlerweile den Besitz von Schallwaffen des Typs LRAD 100X und LRAD 450XL zugegeben. Soundtechniker die netzpolitik.org befragt hat, gehen davon aus, dass diese alleine nicht den in Belgrad gesehenen Effekt auf die Menschenmenge ausüben konnten.
Die Protestbewegung in Serbien geht unterdessen weiter. Sie hat mittlerweile entschlossen, dass die Aufklärung des Vorfalls vom 15. März eine von fünf zentralen Forderungen ist. In Serbien demonstrieren seit November Menschen gegen Korruption und für Rechtsstaatlichkeit. Was als Studierendenbewegung begann, hat mittlerweile die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung erreicht. Zunehmend gerät dabei die Regierung des immer autoritärer agierenden Präsidenten Vucic unter Druck und ins Visier der Protestbewegung. Derzeit radeln Studierende von Belgrad nach Straßburg, um bei der EU auf die Dringlichkeit ihrer Anliegen hinzuweisen.
Interaktive Karte
Wir haben im Nachgang der Ereignisse zusammen mit Hackern, Aktivisten, Soundtechnikern und Journalisten aus Deutschland und Serbien eine Recherchegruppe gebildet, die sich International Research Group nennt und sich an der Aufklärung des Vorfalls beteiligt.
Diese Gruppe hat eine interaktive Karte der Ereignisse erstellt, die fortlaufend erweitert wird. Die Karte trägt verfügbares Material zusammen und soll helfen, die Vorgänge am 15. März in Belgrad zu rekonstruieren. Die Karte ist Work-in-Progress, sie enthält auch nicht-verifiziertes Material. Sie ist deswegen mit Vorsicht zu genießen und wird nicht alleine von netzpolitik.org befüllt.
Rot = Ereignisse. Blau = Kameraaufnahmen des Vorfalls. Gelb = Verdächtiges / Auffälliges / Hinweise. Grün = Zusätzliches Material
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